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Pressemitteilung von WIR-SIND-BOES, 10.01.2019

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Teilziel erreicht –
Verhandlung über SGB II Sanktionen im Bundesverfassungsgericht


Über sechs Jahre hat die Initiative WIR-SIND-BOES sich dafür eingesetzt, die Sanktionspraxis der Jobcenter (Kürzungen der Leistungsbezüge) vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen. Über Umwege und durch die Arbeit etlicher anderer Initiativen ist dies gelungen, und der Termin zur mündlichen Verhandlung steht endlich fest. Am 15.1.2019 befasst sich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erstmals inhaltlich mit der Frage, ob Sanktionen mit dem grundgesetzlichen Recht auf ein würdiges Existenzminimum, dem Recht auf freie Berufswahl, auf Leben und körperliche Unversehrtheit und dem Sozialstaatsgebot vereinbar sind.


Angesichts der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht ständig mit Verfassungsklagen überhäuft und angefragt wird, mag es auf den ersten Blick recht banal erscheinen, dass nun die Frage nach den SGB II Sanktionen auf dem Prüfstand steht. Vor neun Jahren war es die Höhe des Regelsatzes, welche zurecht bemängelt wurde. Dass es ein historisches Ereignis und geradezu ein Wunder ist, dass die jetzige Frage überhaupt das Bundesverfassungsgericht erreichen konnte, kann nur juristisch Sachverständigen begreiflich sein.
[1] Nicht umsonst hat es 14 Jahre gedauert.

Seit Gerhard Schröder die Parole ausrief, dass es kein Recht auf Faulheit gäbe, spaltet sich die Gesellschaft in Gegner und Befürworter der Sanktionspraxis der Jobcenter. Da Deutschland als sozialer Bundesstaat das menschenwürdige Existenzrecht eines jeden Bürgers zu sichern hat, blieb die Frage unbeantwortet und auch ungestellt, was Herr Schröder genau gegen Faulheit machen wollte, ohne dieses Sozialstaatsgebot zu verletzen. Die Lösung, die gefunden wurde: Die Aushebelung des Sozialstaates dem Betroffenen als freiwilliges Einvernehmen zu verkaufen. Dem Arbeitslosen wird nicht nur die eigene Schuld an der Arbeitslosigkeit, sondern sogar die eigene Schuld am Versagen der sozialen Leistungen untergejubelt. Auf das Unterschreiben der sogenannten Eingliederungsvereinbarung, welche in der Rechtsfolgenbelehrung die gesamte Kürzungspolitik aufführt, wird folglich vom Jobcenter auch zu Beginn eines jeden Vertragsverhältnisses gedrungen. Bei Nichteinhaltung der Mitwirkungspflichten, welche dort vorgegeben werden, erscheint der Entzug der Lebensgrundlage schließlich nicht mehr als sozialstaatliches Versagen oder Unrecht, sondern als banale Konsequenz einer vertraglichen Regelverletzung.

Vollkommen verharmlosend wird diese Praxis deshalb auch immer wieder von befürwortenden Politikern mit der Einhaltung von Verkehrsregeln gleichgesetzt, wo man eben auch mal ein Knöllchen für zu schnelles Fahren kassiert.

Ähnlich könnte man argumentieren, dass das Erschießen an der Berliner Mauer nur eine Rechtsfolge war, die sich der Flüchtende selbst zuzuschreiben hatte. Er kannte ja die Gesetze. Doch gerade dies entbindet den Rechtsstaat eben nicht seiner Verantwortung, sondern konfrontiert ihn gerade mit der Frage, ob nicht das Gesetz als solches der Menschenwürde widerspricht.

Zumal es hier wirklich nicht um einen „kleinen Klaps“ oder ein „kleines Knöllchen“, sondern um die gesamte Existenz – oftmals auch der angehörigen Kinder geht!

Ralph Boes hat in jahrelanger Aufklärungs- und Klagearbeit aufgezeigt, wie weit die Gesetzgebung bereit ist zu gehen, um Menschen in den Arbeitsmarkt zu drängen. Faktisch führte dies zu mehrfachen Hungerperioden, die nur durch immer neue Totalsanktionen der Jobcenter verlängert wurden.[2]

Immer wieder wurde vom Jobcenter an ihn herangetragen, er möge doch die Situation deeskalieren und sich bitte einfach der herrschenden Meinung und Gesetzgebung unterordnen. Diese lautet, dass nur ein Recht auf würdiges Leben hat, wer bereit ist, eine bezahlte Arbeit zu leisten oder diese wenigstens zu suchen. Ungefähr so, als würde der Scharfschütze an der Berliner Mauer den Flüchtenden immer wieder zurufen, er möge doch umkehren, denn der tödliche Schuss wäre sonst unvermeidlich!

Was als Recht gilt, kann sich ändern.

Es mag tausenden Arbeitnehmer heute noch als legitim erscheinen, Arbeitslose zu sanktionieren. Weniger das nicht können, als das nicht wollen ist hier Anlass zur Verachtung. Unabhängig davon, dass nur ein geringster Teil der Erwerbslosen aufgrund von Arbeitsverweigerung sanktioniert wird, hat sich das Verständnis eines Sozialstaates hier offenbar in sein Gegenteil verkehrt:

Nicht etwa wird der Sozialstaat als Zone des Schutzes gegen Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt verstanden. Auch nicht als monumentales Grundrecht in einem reichen Land. Vielmehr sieht man die Transferleistungen jetzt missbilligend als Umschlagplatz, der nur ein kurzes Verweilen duldet, um in einen neuen Job zu wechseln. Arbeit zum Wohle der Gesellschaft verstehe sich als Pflicht. Nur Arbeit, die Geld bringt, sei zum Wohle der Gesellschaft.

Der Steuerzahler fühlt sich ausgebeutet durch „faule Elemente“, die sich diesem Dienst an der Gesellschaft verweigern. Recht auf Leben soll nur noch haben, wer seine wirtschaftliche Verwertbarkeit beweist.

Sozialschwach sind in Deutschland offenbar nicht unbedingt die Armen.

Damit schaufelt sich der Arbeitnehmer unwissentlich sein eigenes Grab. Auch er selbst findet keinen Schutz mehr vor Ausbeutung, die das Grundanliegen des Sozialstaates einstmals war. Schon gar nicht findet er gute Löhne oder unbefristete Arbeitsverhältnisse, da Hartz-IV bewusst und willentlich zur „Öffnung des Niedriglohnsektors“ und zur „Flexibilisierung der Arbeit“ durch Zeitarbeit und prekäre Arbeitsplätze geführt hat.

Allen beschönigten Zahlen und Märchen über Fachkräftemangel zum Trotz befinden sich laut Bundesagentur für Arbeit knapp sieben Millionen Menschen in staatlicher Transferleistung.[3] Eine Millionen freie Stellen seien derzeit im Angebot. Doch die Empörung ist groß, wenn sich jemand weigert, bei dieser irrsinnigen Reise nach Jerusalem noch mitzuspielen.

Die Aktivistin Christel T. betont, dass die Justiz unabhängig von Politik und öffentlicher Meinung agieren muss: „Ich sehe es überhaupt nicht ein, mich für die Ressentiments anderer Leute sanktionieren zu lassen!“

Sollte das Bundesverfassungsgericht Mut und Sachverstand aufbringen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, würde sich der Arbeitsmarkt radikal zum Wohle der Arbeitnehmer verändern können. Ganz zu schweigen davon, welches Leid etlichen Betroffenen damit (übrigens oft auch einfach durch Fehler der Behörde!) erspart werden könnte. [4]

Das dies weder den Arbeitgeberverbänden noch unserer „marktkonformen“ Regierung passt, lässt sich schon an den vom Bundesverfassungsgericht beauftragen Gutachten ablesen. Hingegen sprachen sich dreizehn von neunzehn Initiativen aufgrund ihrer praxisnahmen Erfahrungen deutlich gegen die Sanktionen aus. Hier z.B. auch der Deutsche Gewerkschaftsbund, Diakonie und Caritas.[5]

Ralph Boes hat schon in seinem Brandbrief vom Juni 2011 deutlich formuliert, dass das Verständnis von Arbeit sich nicht auf den Gelderwerb beschränken darf: „Ich beanspruche ein unbedingtes Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, welches ich einer von mir selbst gewählten, mir selbst sinnvoll erscheinenden und mir nicht von außen vorgeschriebenen Tätigkeit widmen darf…“[6]

Für alle gilt: Ein Recht auf Arbeit ist, ohne ein Recht auf Leben überhaupt nicht zu denken. Nur, wer eine Lebensbasis hat, kann sich in freier Gesinnung einer Tätigkeit widmen. Und nur, wer bedingungslos abgesichert ist, kann unzumutbare Arbeitsbedingungen ablehnen und sein Recht auf Arbeit in Anspruch nehmen, ohne sich zu Dumpinglöhnen verkaufen zu müssen.

WIR-SIND-BOES wird, neben vielen anderen, die sich gegen die Sanktionspraxis einsetzen, am 15.1.19 mit etlichen Aktivisten und einer Pressesprecherin und vor Ort sein. Wir bedanken uns bei zahlreichen Unterstützern, die dies ermöglicht haben. Unter anderem befürworten und unterstützen wir dabei die Kundgebung von Frigga Wendt, welche zu einem offenen Miteinander und friedlichem demonstrieren aufruft.[7] Ihre Haltung ist klar: „Menschen wie ich werden Sanktionen NIEMALS akzeptieren - auch dann nicht, wenn es keine Rückendeckung "von ganz oben" geben sollte!“

Mit einem Urteil ist aufgrund des Klageumfanges erst in einigen Monaten zu rechnen. Unser Ziel bleibt die Einhaltung der Grundgesetze und der Menschenwürde und damit die Abschaffung der Sanktionen. Wir werden BOES bleiben!

Diana Aman


Hinweise für die Presse:

Kontakt Pressesprecherin:

Diana Aman

Mobil 0176-56109443 (bis einschließlich am 16.1.19, danach nur per e-mail)

E-Mail sanida@gmx.de

Unsere Pressesprecherin wird am 15. und 16.1. sowohl vor als auch nach der Verhandlung in unmittelbarer Nähe des Bundesverfassungsgerichtes für Fragen, Interviews und Kontaktvermittlung zur Verfügung stehen und außerhalb der Verhandlungszeiten über Handy zu erreichen sein.

Eine Pressemappe wird sowohl vor Ort als auch - ab dem 13.1.19 - online zur Verfügung stehen.

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